Motorrad

Reisen auf zwei Rädern: Irland (1)

1979 war es endlich so weit. Das Abi war gemacht, anschließend drei Monate bei Bosch gejobbt und die Reisekasse verdient. Die erste wirklich lange Tour mit einem langstreckentauglichen Motorrad sollte nun nach Irland gehen.

Armin

Dreieinhalb Wochen waren geplant, die Honda war fit, das Gepäck für zwei Personen und drei Wochen Camping bei eventuell wechselhaftem Wetter zwar umfangreich, aber die 400er schleppte es klaglos. Ein neuer Harro-Tankrucksack sollte sich als sehr sinnvoller und über Jahrzehnte haltbarer Ausrüstungsgegenstand erweisen. Inzwischen hatten wir uns bestes Leder besorgt, von einem für uns unbezahlbaren und deshalb ausgeliehenen Harro-Lederkombi das Schnittmuster abgenommen und auf einer geliehenen alten fußbetriebenen Schuhmacher-Nähmaschine zwei feine Lederkombis genäht. Dafür hatten wir in zwei Rukka-Regenkombis investiert. Im Tankrucksack steckte eine Straßenkarte Nord-Frankreichs. Info-Material und eine Straßenkarte von Irland hatten wir vom Irish Tourist Board auf Anfrage bekommen. Die Irland-Karte war zweisprachig (Englisch und Gälisch), was uns noch sehr helfen sollte. EC-Karten und den Euro gab es noch nicht, wir hatten also Bargeld (französische Francs, irische Pfund und Deutsche Mark), versicherte Traveller-Schecks und ein Postsparbuch dabei, außerdem einen ADAC-Auslandsschutzbrief und die damals notwendige grüne Versicherungsbescheinigung. Die auf den vorangegangenen Touren gemachten Erfahrungen begannen sich auszuzahlen.

Wir wollten von Backnang nur bis zur französischen Grenze die Autobahn nutzen, da Frankreich ja über gut ausgebaute „Routes Nationales“ verfügte. Und im Gegensatz zu den französischen Autobahnen kosteten die nichts, was unsere Reisekasse schonte. Außerdem fanden sich entlang der „Routes Nationales“ ausreichend Tankstellen, Einkaufs- und Essensmöglichkeiten und Campingplätze. Hier bevorzugten wir die zahlreich vorhandenen „Campings Municipaux“, die waren extrem einfach ausgestattet, aber entsprechend preiswert. Nach den gemachten Erfahrungen auf den vorangegangenen Touren mit gelegentlichen Planänderungen zum Beispiel wegen Pannen schien es wenig sinnvoll, die Direktfähre von Le Havre nach Rosslare zu buchen, da verließen wir uns auf unser Glück. Über England zu reisen hätte deutlich mehr Zeit beansprucht, die Honda und wir hätten sehr viel mehr Kilometer machen müssen, und die Kosten wären höher gewesen.

Am zweiten Reisetag bekamen wir in Le Havre problemlos Tickets für eine Deckpassage, alles andere wäre zu teuer gewesen. Die Überfahrt sollte etwa 36 Stunden dauern, die Abfahrt war gegen 17 Uhr. Danach erst mal im Bord-Restaurant etwas essen, dann im Bord-Kino einen Film ansehen. Danach dann auf das eine oder andere Pint Guinness an die Bar, wo zahlreiche von Festland-Jobs heimkehrende Iren in Feierlaune waren. Nach 1 Uhr konnten wir und einige andere Reisende auf einem stillen Flur zu den Kabinen unseren Schlafsack ausrollen, um gegen 6 Uhr den Weckruf „Alright lads, time to rise!“ zu vernehmen. Bis es dann einen Kaffee im Bordrestaurant gab, dauerte es noch einige Zeit, also raus an die frische Luft und die Guinness-Nachwehen weg atmen.

Gegen 13 Uhr rollten wir vom Schiff. Rosslare Harbour bestand damals im Wesentlichen aus einer sehr großen Schotterfläche, der Zoll saß mitten auf dem Platz in einem kleinen Container. Heute steht da ein sehr großes Terminal. Passkontrolle, dann über die Leitung, die Desinfektionsmittel auf die Reifen versprühte (Irland kannte keine Tollwut), und los ging’s Richtung Dublin. Da ich in Le Havre noch vollgetankt hatte, fuhr ich erst kurz vor Dublin an eine Tankstelle. Der Tankwart fragte nach Vouchers, ich sah ihn verständnislos an. Nach einigem Hin und Her stellte sich heraus, dass der Sprit für Iren rationiert war. Touristen konnten fast unbegrenzt tanken, benötigten aber Tankgutscheine. Und diese wurden üblicherweise auf dem Schiff ausgegeben. Wir könnten uns aber auch im Tourist Office in einem Ort namens Dun Liery, gesprochen /dʌn ˈlɪəri/, welche geben lassen. Diesen Ort konnte ich beim besten Willen nicht auf der Karte finden. Der Tankwart half, und ich war sprachlos. So ist das, wenn ein Namen englisch gesprochen, aber gälisch geschrieben wird, es handelte sich um Dún Laoghaire. Soweit allerdings reichte unser Sprit nicht mehr, und er gab uns gnädigerweise fünf Liter zur Überbrückung. Ironischerweise sollten wir aber auf dem Rest der Reise die in Dublin besorgten Vouchers nicht mehr benötigen.

Irland ist traumhaft, besonders mit dem Motorrad. Das manchmal alle halbe Stunde wechselnde Wetter störte uns nicht, was nass wurde, blies der ständige Wind auch schnell wieder trocken. Wir verließen Dublin mit seinem morbiden Charme, seinen wunderschönen alten, aber baufälligen Häusern entlang des Liffey bald wieder. Heute ärgere ich mich, dass ich dort nicht fotografiert habe, denn davon steht fast nichts mehr, moderne Architektur aus Stahl und Glas dominiert, ein gigantischer Geschichts- und Kulturverlust. Unsere Reise führte uns entlang der Westküste über den Ring of Kerry Richtung Norden, durch das wunderschöne Connemara, bis in die raue Landschaft von Galway. Wir durchquerten Landstriche, wo plötzlich alle Wegweiser nur noch auf gälisch waren, hier half die eingangs erwähnte Karte sehr. Und manchmal weigerten sich die Menschen sogar, englisch mit uns zu reden.

Der kleine, in Terrassen angelegte Campingplatz in Galway blickte auf die Bucht, und wir wunderten uns, warum alle Zelte den Eingang zum Hang hin hatten. Wir wollten die herrliche Aussicht vom Schlafsack aus genießen. Als dann nachts der Sturm den Regen in die Bucht trieb, konnte der Reißverschluss des Zelteingangs dem Wasser kaum noch Einhalt gebieten. Wieder etwas gelernt. In einer ruhigen Hafenkneipe verbrachten wir einen langen Abend im Gespräch mit dem Wirt. Unser Englisch war noch sehr schulisch geprägt, und er hatte einen heftigen Slang. Nach einigen Missverständnissen wurde dann klar: Es war die Stammkneipe von Heinrich Böll, wenn er sich in seinem Ferienhaus auf einer der kleinen Inseln aufhielt. Natürlich hatten wir vor der Reise sein irisches Tagebuch gelesen.

An der „irischen Akropolis“, dem Rock of Cashel, Sitz der Könige von Munster, erlaubte uns der Ticketverkäufer, unser Zelt in der Anlage hinter seinem Häuschen aufzustellen, weil es weit und breit keinen Camping-Platz gab. Heute wohl undenkbar.

Außerdem besuchten wir die Schwester eines guten Freundes, die wenige Jahre zuvor nach Irland ausgewandert war und mit ihrem Mann einen kleinen Bio-Hof betrieb, was damals in Irland sehr mutig und echte Pionierarbeit war. Viele der alten Häuser, besonders die Reet-gedeckten, hatten große Löcher im Dach. Der Grund war eine gesetzliche Regelung, wonach für Häuser ohne Dach keine Steuern anfielen. Zu dieser Zeit lebten etwa zwei Drittel der irischen Bevölkerung in USA, die Häuser waren verlassen und sollten nichts kosten. Und die, die dageblieben waren, hatten oft einen kleinen Billig-Bungalow im amerikanischen Stil neben das alte Bruchsteinhaus gebaut. Auf den Dächern lagen große Steine, damit der Sturm die Dachpappe nicht mitnahm.

Die alten Häuser galten als Symbol für Armut, keiner verstand, warum wir sie schön fanden. Das Bruttosozialprodukt pro Kopf war niedriger als im anatolischen Teil der Türkei, und Familien, in denen der Mann in dritter Generation ohne Job war, waren keine Seltenheit. Es war ein wunderschönes, aber bitterarmes Land, niemand schloss die Haustür ab, die Menschen waren außerordentlich gastfreundlich. Irland verzauberte uns, und es stand fest, dass wir wiederkommen würden.