Fidel Castro und Ernesto Che Guevara jagen mit ihrer erfolgreichen Revolution den kubanischen Diktator Battista von der Insel, der Dalai Lama flieht aus Tibet, das von China besetzt wird. Alfred Hitchcock’s „Der unsichtbare Dritte“ und William Wyler’s „Ben Hur“ kommen ins Kino und Buddy Holly stirbt bei einem Flugzeugabsturz. Mattel bringt die erste Barbie-Puppe auf den Markt, in Frankreich erscheint der erste Comic von Asterix, BMC stellt den Mini vor, und Jack Brabham schiebt seinen Rennwagen mit leerem Tank mehrere hundert Meter bis über die Ziellinie und wird so noch Formel-1-Weltmeister.
Die SPD verabschiedet das Godesberger Programm, die westdeutsche Luftwaffe bekommt 300 US-Jagdflugzeuge des Typs Starfighter. Im Laufe der nächsten Jahre stürzen davon 260 Maschinen ab. 110 Piloten kommen ums Leben. Günter Grass veröffentlicht die Blechtrommel. Im Regierungsbezirk Düsseldorf wird erstmals ein Radargerät zur Geschwindigkeitsmessung eingesetzt. Honda stellt die CB72 vor und nimmt zum ersten Mal an der TT auf der Isle of Man teil.
Und: ich werde geboren.

Die CB72 war zu jener Zeit ein hochmodernes Motorrad, das völlig mit der Bauweise und dem Design der 50er Jahre brach. Sie war keine Kopie der europäischen Motorräder mehr, sondern brachte ein eigenständiges japanisches Design mit. Und sie war technisch wie leistungsmäßig den europäischen Konkurrenten deutlich überlegen. Von vornherein als Super-Sport-Motorrad konzipiert, folgte bald die nahezu baugleiche CB77 mit 304 ccm, für die es von Honda den sogenannten ‚Race-Kit‘ gab. Mit den darin enthaltenen Teilen konnte sie im Handumdrehen in eine Straßen-Rennmaschine verwandelt werden. So fanden sich bald zahlreiche CB72 und CB77 in den Starterlisten der Amateurklassen, die sich durchaus erfolgreich schlugen. Und auch Steve McQueen und Jim Morrison fuhren CB77. Robert Pirsig ist in seinem Kult-Roman „Zen und die Kunst ein Motorrad zu warten“ bei seiner Reise durch die USA mit einer CB72 unterwegs.

Und selbstverständlich gab es ein entsprechendes Pendant bei den Werksrennmaschinen namens CR72. Solch ein Motorrad wäre natürlich mein Traum, die Verwandtschaft mit der CB72 ist durchaus erkennbar. Erst vor wenigen Jahren wurde bei Bonhams eine solche CR77 in sehr angegriffenem Zustand versteigert. Der Preis überstieg natürlich völlig meine Möglichkeiten, sonst hätte mich nichts gehalten.

Eine restaurierungsbedürftige CB72 bezahlbar aufzutreiben ist mir aber vor einiger Zeit gelungen, sie stammte aus einem Nachlass. Über das Projekt habe ich schon berichtet. Aus diesem Nachlass wurde damals auch eine CB72, mit Teilen aus dem ‚Race-Kit‘ und aufgebohrten Zylindern zur CB77 umgebaut und mit entsprechender Renn-Historie verkauft. Der Käufer hat sie jedoch nie gefahren, und zufällig bin ich nun auf seine Verkaufsanzeige gestoßen. Kurz vorher wurde ich von einem Bekannten darauf angesprochen, was ich noch an Projekten suchen würde. „Keine“ antwortete ich, „es sei denn etwas ganz Besonderes kommt um die Ecke“. Der Preis war so günstig, dass die Entscheidung schnell fiel. Dank Gerd’s Unterstützung konnten wir die Maschine einige Tage später abholen.

Der Renner wurde nie restauriert, und stand sehr lange in der privaten Sammlung seines damaligen Fahrers. So ist er in gutem Zustand und mit einer sehr schönen Patina erhalten geblieben. Diese Patina will ich konservieren und somit erhalten. Das Internet spuckt zu den CB72/CB77 relativ wenig aus. Ersatzteile sind kaum zu bekommen, und wenn dann meist recht teuer, was entsprechende Vorsicht und Sorgfalt bei der Wiederbelebung nahelegt. Sitzbank und Lenkungsdämpfer stammen aus dem Race-Kit, die Megaphone scheinen detailgetreu nachgebaut zu sein. Die vordere Duplex-Trommel hat wie üblich zusätzliche Belüftungsöffnungen bekommen, die Räder wurden mit Borrani-Alu-Hochschulterfelgen eingespeicht.

Für mein CB77-Projekt habe ich bereits einige interessante Teile aus ihrer Bauzeit aufgetrieben, die ich nun zur Veredelung dieses alten Renners verwenden werde. So ist z. B. ein zeitgenössischer elektronischer VDO-Drehzahlmesser montiert, der durch einen japanischen original Nippon-Seiki-Renn-Drehzahlmesser ersetzt wird. Die Serienarmaturen mit der im Rennbetrieb überflüssigen Spiegel-Aufnahme werden gegen originale Tomaselli-Renn-Hebeleien aus den 60er Jahren getauscht.


Die notwendigen Arbeiten sind überschaubar, solange keine bislang unentdeckten Schäden auftauchen. Lack und Chrom sind weitgehend sehr gut erhalten, hier steht polieren an. Sollten sich einzelne Teile meines CB72/CB77-Projektes als besser erweisen als jene am Renner, werde ich entsprechend tauschen. Außerdem müssen ein paar vermutlich Anfang der achtziger Jahre erfolgten ‚Verschlimmbesserungen‘ wie z. B. der aus Baumarkt-Lochblech angefertigte Batteriehalter passenderen Lösungen weichen. Der Kontrast des professionell durchgeführten Tuning zu diesen Umbauten lässt vermuten, dass es nach den Renneinsätzen einen Besitzerwechsel gab.

Der Motor wurde offensichtlich professionell getunt. Am Zylinder findet sich statt der in der Serie eingegossenen Hubraumzahl eine eingeschlagene 350-cc-Kennzeichnung. Üblich waren eine Erhöhung der Verdichtung durch entsprechende Kolben mit hohem Dom unter Beibehaltung der serienmäßigen 305 ccm.

Die englische Schreibweise des Hubraums könnte auf Tuning-Material aus Groß-Britannien oder den USA hinweisen. Ebenso könnte aber auch Yoshimura-Material verbaut sein, darauf weist ein entsprechender Aufkleber auf dem Heck-Schutzblech hin. Denn über eine Tuning-Nockenwelle verfügt der Motor definitiv, das war beim Testlauf 2020 eindeutig erkennbar. Und immerhin hat Pop Yoshimura seine unvergleichliche Tuner-Karriere u. a. mit der CB72/CB77 gestartet. Ein Liebhaber alter Hondas hatte vor wenigen Jahren das Glück bei ebay die CB72 und die CB77 von Pop Yoshimura zu entdecken und zu kaufen.

Auch wenn ich nicht ganz so viel Glück hatte: Bei meinem Fund wurde außerdem statt des serienmäßigen 4-Gang-Getriebes ein 5-Gang-Renngetriebe verbaut, heute exorbitant teuer. Zudem entsprechende offene Vergaser und eine erleichterte Kurbelwelle.

Laut des verstorbenen Vorbesitzers soll die CB72 51 PS leisten. Mir scheint das etwas hoch gegriffen zu sein, und ob diese Angabe auf einer Prüfstand-Messung beruht kann er uns leider nicht mehr sagen. Nach einer sehr kurzen Probefahrt im Jahr 2020 und alten Angaben über die machbare Leistungssteigerung denke ich aber, dass ca. 40 PS realistisch sein könnten. Ganz erstaunlich für ein seriennahes Motorrad Baujahr 1962. Mal sehen, ob ich sie rechtzeitig für den Schottenring-Grand-Prix startklar machen kann.